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Steuersenkungen adé

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Bizarr: Die Londoner City revoltiert gegen Steuersenkungen für Reiche
von Ingo Schmidt

Mitte Oktober bot Großbritannien ein ungewöhnliches Schauspiel: Anleger der City of London protestierten mit dem massenhaften Verkauf von britischen Pfund, Aktien und Staatsanleihen gegen eine Regierungsentscheidung der neu gewählten Tory-Premierministerin Liz Truss und lösten damit eine Finanzkrise aus, die nur eingedämmt werden konnte, weil die Zentralbank mit dem Ankauf von Wertpapieren gegensteuerte.

Im Gerangel um Regierungsposten ging der Clou unter: Truss hatte sich als »Thatcher II« zu präsentieren versucht und bei einer Staatsverschuldung von 40 Mrd. Pfund eine – schuldenfinanzierte – Neuauflage von Steuersenkungen und Deregulierung vorgeschlagen. Das Publikum durfte annehmen, dass die City, die unter Thatcher I zur dominierenden Kapitalfraktion aufgestiegen war, das goutieren würden. Sie tat es nicht. Die City spekulierte gegen Thatcher II, bis sie endlich zurücktrat. Die Opposition spielte dabei keine Rolle. Zwar legte sie in Meinungsumfragen kräftig zu, war aber unfähig oder unwillig, die heillos zerstrittenen Tories aus der Downing Street zu jagen.
Was genau hat sich in der City abgespielt? Und wieso konnte sie das Steuergeschenk der Regierung nicht akzeptieren?

Die City
Kaum eine Woche im Amt, trat Truss’ Finanzminister Kwasi Kwarteng mit einem Nachtragshaushalt an die Öffentlichkeit: Der Spitzensteuersatz auf private Einkommen sollte von 45 auf 40 Prozent gesenkt, die erwarteten Einnahmeausfälle von 70 Mrd. Pfund durch zusätzliche Schulden finanziert werden. Außerdem sollten die Energiepreise für private Haushalte und Unternehmen gedeckelt werden. Die Differenz zwischen staatlich festgelegtem Verbraucherpreis und Marktpreis würde aus öffentlichen Mitteln zugeschossen.
Die Reaktion der City: Das Pfund, bereits seit Mai 2021 mit einigem Auf und Ab auf Talfahrt, verlor weiter an Wert. Die Aktienmärkte, deren Notierungen im Februar den Stand vor der Corona-Rezession erreicht hatten, brachen wieder ein. Vier Tage nach Truss’ Amtsantritt, am 12.September, war der Aktienindex FTSE auf 7360 gestiegen; am 12.Oktober erreichte er einen Tiefpunkt von 6792. Ähnlich bei den Staatsanleihen. Nach der Corona-Rezession stiegen die Zinsen, zu denen der Staat solche Papiere verkaufen kann, allmählich wieder. Nach Bekanntwerden der Haushaltspläne schossen sie in die Höhe: von 2,8 Prozent am 12.September auf 4,4 Prozent am 12.Oktober.
Damit wurde das gesamte Zinsniveau in die Höhe getrieben, Investitionen und die Refinanzierung langfristiger Schulden verteuerten sich; Pensionsfonds bekamen Schwierigkeiten, die zur Auszahlung bestehender Rentenansprüche notwendigen Gewinne zu erwirtschaften. Immobilienmakler stellten sich auf sinkende Preise und Verkaufszahlen ein.
Das Kapital flüchtete aus dem Pfund, den Aktien-, Anleihe-und Immobilienmärkten. Die Zentralbank steuerte mit Wertpapierkäufen entgegen. Doch erst die Entlassung von Kwarteng am 14. und Truss’ Rücktritt am 20.Oktober sorgten für eine Umkehr. Danach stiegen die Kurse wieder auf die alten Werte.
Dass Finanzanleger und Konzerne Regierungen durch Investitionsstreiks und Kapitalflucht zu Kursänderungen oder Rücktritt zwingen, gehört zu den Geschäftsbedingungen des neoliberalen Kapitalismus. Die Liberalisierung der Finanzmärkte war eine der entscheidenden politischen Maßnahmen, mit denen die Gegenmacht, die sich Gewerkschaften und Sozialdemokratie im Sozialstaatskapitalismus erkämpft hatten, zurückgedrängt wurde. Sie verschaffte dem Finanzkapital die Vetomacht über die Politik gewählter Regierungen, die Industriekonzerne aus der Verstrickung mit Gewerkschaftsvertretern und Sozialstaatsbürokratie befreite.
In Großbritannien war Margaret Thatcher die Vorkämpferin der neoliberalen Gegenreform. Neben der Liberalisierung der Finanzmärkte gehörte die drastische Senkung von Körperschaft- und Einkommensteuern zu ihren wichtigsten Maßnahmen. Sie verhalfen Unternehmen und reichen Haushalten zu den notwendigen Finanzmitteln, um über entsprechende Investitionen oder Desinvestitionen Regierungen auf Kurs zu bringen.
Keine Frage: Wäre Jeremy Corbyn als Premierminister in die Downing Street eingezogen, hätte er sehr schnell vor der Wahl gestanden, sein moderat sozialdemokratisches Programm unter dem Druck von Kapitalflucht und Investitionsstreik aufzugeben oder dem Finanzkapital durch Kapitalverkehrskontrollen den offenen Kampf anzusagen.
Dass ausgerechnet die Wiedergängerin Thatchers von der City abgestraft würde, war dann doch überraschend – ebenso wie die Tatsache, dass Rishi Sunak, der bei der Wahl zur Nachfolge Boris Johnsons gegen Truss verloren hatte, mit Hilfe der City doch noch Regierungschef wurde, mit der erklärten Absicht, die Steuern für die oberen Einkommensklassen zu erhöhen.
Allerdings war Truss’ Selbstdarstellung als Thatcher II nur teilweise berechtigt, und es wäre falsch, Sunak wegen seiner Steuererhöhungspläne als Anti-Thatcher anzusehen. Truss und Sunak stehen für je ein Element der Wirtschaftspolitik, die Thatcher in einer Person verkörperte. In ihrer Regierungszeit wurden Steuern und Staatsausgaben gesenkt, die Staatsschuldenquote war rückläufig. An ihre Kürzungspolitik knüpfte David Cameron nach den keynesianischen Maßnahmen zur Eindämmung der Weltwirtschaftskrise 2008/2009 wieder an. Wegen des schwachen Wirtschaftswachstums konnte die Schuldenquote trotz drastischer Ausgabenkürzungen dennoch nicht gesenkt werden. Seine Nachfolger Theresa May und Boris Johnson setzten sich vorsichtig von der Austeritätspolitik ab – auch um den Preis steigender Staatsverschuldung.
Die Kombination von steigenden Staatsschulden und Inflation nach der Corona-Rezession hat in der ­City jedoch zu einem Umdenken geführt. Nunmehr sollen durch Zinsanhebungen die Inflation und durch Ausgabenkürzungen die Staatsverschuldung gesenkt werden. Eine Rezession infolge steigender Zinsen ist dabei einkalkuliert, sie hat tatsächlich bereits eingesetzt.
Dass die damit verbundenen Einnahmeausfälle den Abbau der Staatsschulden trotz Ausgabenkürzungen unmöglich machen, interessiert die City nicht: Hauptsache Zinsen rauf, Inflation und Ausgaben runter. Während in der Öffentlichkeit noch das Bild vom Steuererhöher Sunak vorherrscht, wird die Rückkehr zur Austerität vorbereitet.

Die Opposition
Bei der Unterhauswahl 2017 konnte Labour noch 40 Prozent der Stimmen einfahren und somit mit den Tories (42,4 Prozent) fast gleichziehen. Bei den vorgezogenen Neuwahlen 2019 ging der Stimmenanteil von Labour auf 32,2 Prozent zurück.
Mit Verleumdungskampagnen und innerparteilichen Säuberungen hatten der Parteiapparat und eine Mehrheit der Parlamentsfraktion den ungeliebten linken Parteivorsitzenden Jeremy Cornyn aus dem Amt gedrängt. Dabei trafen sie auf wenig Widerstand. Die Wahl Corbyns zum Parteichef war durch den Eintritt einer neuen Generation von linken Aktiven in die Partei möglich geworden. Die damit verbundene Aufbruchsstimmung reichte für den Wahlerfolg 2017, aber nicht zur Konsolidierung einer sozialen Kraft, die der vereinten Gegnerschaft von City, Tories, anderer rechter Parteien sowie den Anhängern Tony Blairs in der Labour Party hätte widerstehen können.
Es ist die nationale Frage, die den Zusammenhalt Großbritanniens dauerhaft geschwächt hat und die Herausbildung sozialer Machtblöcke erschwert. Auch wenn der Zerfall des Vereinigten Königreichs unwahrscheinlich ist, sind schottischer und walisischer Nationalismus stark genug, um eine Wiederkehr der politischen Machtaufteilung zwischen Tories und Labour zu verhindern. In Nordirland ist ein Referendum über die Vereinigung mit der irischen Republik immerhin denkbar geworden.
Die Herausbildung eines linken Machtblocks, der durch eine linksgewendete Labour Party organisiert und repräsentiert werden könnte, wird durch die Neuzusammensetzung der arbeitenden Klassen seit Thatcher I noch zusätzlich erschwert. Zumindest der Corbyn-Kampagne ist es nicht gelungen, Brücken zwischen den alten industriellen Zentren in Nordengland, Wales und Schottland und dem neuen Dienstleistungsproletariat im Süden zu schlagen.
Aber noch ist nicht aller Tage Abend. Frühere Wellen der Austerität, zusammen mit einer Inflation, die die Einkommen aller Segmente der arbeitenden Klassen entwertet, haben zu einer neuen Militanz der Gewerkschaften geführt. Im günstigsten Fall lassen sich in diesem Kampf Siege erringen, die auch die politische Linke aus ihrer Post-Corbyn-Depression herausholen.

Ingo Schmidt ist Ökonom und leitet das Labour Studies Program der Athabasca University in Kanada.


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